Amtshaftung, Standesrecht
23 Abs 2 RAO, § 1311 ABGB, § 1 Abs 1 AHG; § 43 RL-BA 2015 (bzw. RL-BA 1977)
Die in § 23 Abs 2 Satz 2 RAO normierte Überwachungspflicht der Rechtsanwaltskammer (RAK) ist kein Schutzgesetz iSd § 1311 ABGB zugunsten des Mandanten. Die Verpflichtung der RAK zur Überwachung ihrer Mitglieder (§ 23 Abs 2 RAO) dient nicht dem Schutz der Mandanten.
Hingegen: Nach § 23 Abs 6 RAO hat die RAK die Einhaltung der ihren Mitgliedern obliegenden Pflichten nach § 10a RAO sowie der aufgrund von § 27 Abs 1 lit g) RAO erlassenen Richtlinien zu überprüfen.
27.1.2023, 1 Ob 165/22d
Sachverhalt
Die Klägerin habe dadurch einen Schaden erlitten, dass eine für sie bestimmte Zahlung ihres damaligen Prozessgegners nicht auf ein Fremdgeldkonto, sondern auf das persönliche Kanzleikonto ihres ehemaligen Rechtsvertreters gebucht, von diesem für eigene Zwecke verbraucht und schließlich das Konkursverfahren über sein Vermögen eröffnet wurde. Der beklagten RAK wurde vorgeworfen, sie habe pflichtwidrig eine Beaufsichtigung ihres früheren Rechtsvertreters hinsichtlich der Einhaltung der Verpflichtung, für Klientengelder Fremdgeldkonten zu führen, unterlassen. Die beklagte RAK bestritt die ihr vorgeworfene Kontrollpflichtverletzung und wandte im Wesentlichen ein, dass die Überwachung der Pflichten der Rechtsanwälte durch die RAK nicht den Schutz Dritter – wie insbesondere der Klägerin – bezwecke.
Das Erstgericht wies die Klage ab, weil die Verpflichtung der beklagten RAK zur Kontrolle der Einhaltung der Pflichten ihrer Mitglieder nicht den Schutz von deren Klienten bezwecke. Der Schaden der Klägerin stehe daher in keinem Rechtswidrigkeitszusammenhang mit der behaupteten Kontrollpflichtverletzung der beklagten RAK. Der ehemalige Rechtsvertreter der Klägerin wurde im gegen ihn wegen des Verdachts der Untreue geführten Strafverfahren im Zweifel freigesprochen, da – (eigene Anm: wohl in dubio pro reo) – nicht auszuschließen war, dass sich ihr früherer Rechtsvertreter den ihr zustehenden Geldbetrag – aufgrund der fehlenden Kontentrennung – lediglich „aus Versehen“ zugeeignet habe. Anhaltspunkte dafür, dass die beklagte RAK erkennen hätte können, dass der ehemalige Rechtsvertreter der Klägerin entgegen § 43 RL-BA 2015 bzw RL-BA 1977 keine Fremdgeldkonten führte, ergaben sich weder aus dem Klagevorbringen noch aus dem festgestellten Sachverhalt. Nach den Feststellungen bestanden gerade keine Anhaltspunkte dafür, dass er gegen diese Bestimmung verstoßen hätte. Somit bestand auch kein besonderer Anlass der beklagten RAK zur Kontrolle gerade dieses bestimmten Rechtsanwalts.
Das Berufungsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung und ließ die ordentliche Revision nicht zu: Der geltend gemachte Ersatzanspruch scheitere schon daran, dass die Klägerin die Kausalität der behaupteten Pflichtverletzung für den eingetretenen Schaden nicht hinreichend dargelegt habe. Eine Haftung der beklagten RAK käme nur in Betracht, wenn der ihr vorgeworfene Überwachungsfehler dafür, dass der frühere Rechtsanwalt der Klägerin ihr Geld für eigene Zwecke verwendete, ursächlich gewesen wäre. Dies wäre aber nur bei einer – durch die fehlende Kontentrennung bedingten – irrtümlichen Verwendung ihres Geldes denkbar gewesen. Eine vorsätzliche Veruntreuung wäre auch durch Einhaltung der Pflicht zur getrennten Kontenführung, deren mangelnde Kontrolle die Klägerin der beklagten RAK vorwirft, nicht verhindert worden. Da die Klägerin nicht behauptet habe, auf welche Art (irrtümlich oder wissentlich) ihr Rechtsanwalt das Geld verwendete, komme der Klage mangels Darlegung der Ursächlichkeit des behaupteten Fehlverhaltens keine Berechtigung zu.
Aus den Entscheidungsgründen:
Entgegen diesem den OGH nicht bindenden Ausspruch ist die Revision der Klägerin zulässig, weil das Berufungsgericht ihr Vorbringen gegen ihren erklärten Willen auslegte (RS0042828 [T30]) und bei richtigem Verständnis eine nähere Auseinandersetzung mit dem Schutzzweck der allgemeinen Kontrollpflicht der RAK geboten ist. Sie ist aber im Ergebnis nicht berechtigt.
Dass die Klägerin in erster Instanz auch Vorbringen erstattete, das auf eine vorsätzliche Verwendung ihres Geldes durch den Rechtsanwalt hindeutete, schadet nicht. Werden unterschiedliche (auch einander widersprechende) rechtserzeugende Tatsachen geltend gemacht, die jede für sich dem einheitlichen Urteilsbegehren zum Erfolg verhelfen sollte, so entspricht dies vielmehr einer zulässigen kumulierten Klagenhäufung (RS0038130; 3 Ob 5/16f mwN).
Schutzgesetze iSd § 1311 ABGB sind abstrakte Gefährdungsverbote, die dazu bestimmt sind, die Mitglieder eines Personenkreises gegen die Verletzung von Rechtsgütern zu schützen (RS0027710). In einem Schutzgesetz ist eine konkrete und detaillierte Verhaltensnorm zu sehen, die das gebotene bzw verbotene Verhalten genauer umschreibt. Schutzgesetze haben insoweit eine „Verdeutlichungsfunktion“ (RS0027367). Sie bezwecken durch die Umschreibung konkreter Verhaltenspflichten, einem Schadenseintritt vorzubeugen (RS0027710 [T22]). Allgemein gehaltene Bestimmungen, die keine konkreten Verpflichtungen normieren, sind keine Schutzgesetze (2 Ob 28/19k mwN). § 1311 ABGB wäre nicht vollziehbar, könnte nicht zwischen Schutzgesetzverletzungen und Verletzungen anderer, nicht konkret umschriebener Verhaltensgebote unterschieden werden (RS0027567). Nicht jeder Schutz bzw Vorteil einer bestimmten Person, den eine Norm tatsächlich bewirkt, ist auch von deren Schutzzweck erfasst (RS0027553 [T14]).
23 Abs 2 RAO (auch in früheren Fassungen) ordnet (jeweils) an, dass die RAK die beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Rechtsanwälte wahrzunehmen, zu fördern und zu vertreten habe und ihr dabei insbesondere die Wahrung der Ehre, des Ansehens und der Unabhängigkeit des Rechtsanwaltsstandes sowie die Wahrung der Rechte und die Überwachung der Pflichten des Rechtsanwaltsstandes bzw (ab BGBl I 10/2017) ihrer Mitglieder obliege. Die Überwachung der rechtsanwaltlichen Pflichten war also seit jeher allgemeine Aufgabe der RAK (1 Ob 19/08p; vgl aber auch Jahoda, Sinn und Widersinn anwaltlicher Freiheit, ÖJZ 1984, 150, der im Hinblick auf das Fehlen einer § 154 NO vergleichbaren Bestimmung keine Pflicht zur Überwachung der Geldgebarung des Rechtsanwalts annimmt).
Nach der Rechtsprechung des VwGH kommt weder Standesgenossen noch anderen Personen (also insbesondere Klienten) ein subjektives Recht darauf zu, dass der Ausschuss der RAK im Rahmen des allgemeinen Aufsichtsrechts gemäß § 23 RAO tätig wird (VwGH 92/01/0033 ua). Die Standesaufsicht stelle nur einen programmatisch die Aufsichtsziele umschreibenden Auftrag an die zuständigen Organe der RAK dar, auf deren Durchführung niemand ein Rechtsanspruch zustehe (VwGH 1751/77 ZfVB 1985/1342). Nach Auffassung des VfGH (B 101/52 VfSlg 2400) legt § 23 RAO der RAK die Verpflichtung zur Wahrung des Ansehens des Rechtsanwaltsstandes auf.
Schon der Wortlaut des § 23 Abs 2 RAO nahe, dass die allgemeine Verpflichtung der RAK zur Überwachung der Einhaltung der Pflichten ihrer Mitglieder nicht (auch) dem Schutz individueller Vermögensinteressen der Mandanten dient. Gegen einen von § 23 Abs 2 RAO bezweckten Schutz des Mandanten eines Rechtsanwalts spricht auch die bloß programmatische Formulierung dieser Bestimmung. Die allgemeine Pflicht der RAK zur Überwachung der Einhaltung der Pflichten ihrer Mitglieder wird weder in der RAO noch in den RL-BA näher konkretisiert. Der RAK werden insbesondere keine bestimmten Kontrollmaßnahmen aufgetragen und es werden (mit gewissen Ausnahmen) auch keine konkreten rechtsanwaltlichen Pflichten genannt, deren Einhaltung die RAK konkret zu überprüfen hätte. Insbesondere erfolgt keine Bezugnahme auf die Verpflichtung der Rechtsanwälte zur Einhaltung der Bestimmungen über die Fremdgeldgebarung nach § 43 RL-BA. Insoweit unterscheidet sich § 23 Abs 2 RAO von § 154 NO, der für die vorbeugende (Wagner/Knechtel, Kommentar zur Notariatsordnung6 [2006] § 154 Rz 1) Überprüfung der Geldgebarung der Notare durch die Notariatskammer konkrete Vorgaben enthält.
Die gänzlich allgemeine Aufsichtspflicht des § 23 Abs 2 RAO unterscheidet sich durch ihren bloß programmatischen Charakter auch maßgeblich von der konkreten Kontrollpflicht des § 23 Abs 6 RAO im Zusammenhang mit von Rechtsanwälten übernommenen Treuhandschaften unter Inanspruchnahme der von der RAK zu führenden Treuhandeinrichtung. Nach § 23 Abs 6 RAO hat die RAK die Einhaltung der ihren Mitgliedern obliegenden Pflichten nach § 10a RAO sowie der aufgrund von § 27 Abs 1 lit g) RAO erlassenen Richtlinien zu überprüfen. Im Unterschied zu § 23 Abs 2 RAO enthalten § 10a RAO sowie die – auf Grundlage des § 27 Abs 1 lit g) RAO beschlossenen – Statuten der Treuhandeinrichtung der (beklagten) RAK 2019 (zuvor 2010) konkrete Vorgaben zur den Informations-, Melde-, Auskunfts- und Offenlegungspflichten des Rechtsanwalts gegenüber der RAK sowie zu deren Kontroll- und Überprüfungspflichten.
Sowohl der VfGH (VfSlg 19.588) als auch der OGH (1 Ob 137/20h) gehen davon aus, dass die Treuhandeinrichtung (auch) dem Klientenschutz dient.
Gemäß § 10a Abs 2 letzter Satz RAO besteht bei Beträgen, die der Rechtsanwalt – wie hier – im Rahmen einer Prozessführung (treuhändig) entgegennimmt, nämlich gerade keine Pflicht zur Inanspruchnahme der von der RAK zu führenden Treuhandeinrichtung.
Nach Ansicht des erkennenden Senats legt die konkrete und detaillierte Normierung dieser Pflichten in den § 23 Abs 6 RAO (idgF) und § 10a RAO sowie im Statut der Treuhandeinrichtung der RAK (woraus unter Umständen auf eine Einbeziehung des Klienten in den Schutzbereich der Kontrollpflichten geschlossen werden könnte) vielmehr nahe, dass es sich (e contrario) bei der demgegenüber gänzlich unkonkreten Bestimmung des § 23 Abs 2 Satz 2 RAO gerade um kein Schutzgesetz zugunsten des Klienten handelt. Wäre ein solcher Schutz durch diese Bestimmung intendiert gewesen, wäre die dort nur ganz allgemein erwähnte Kontrollpflicht der RAK wohl – ebenso wie in § 23 Abs 6 iVm § 10 RAO – konkreter geregelt worden. Die Verpflichtung der RAK zur Überwachung ihrer Mitglieder (§ 23 Abs 2 RAO) dient nicht dem Schutz der Mandanten.
Anmerkung:
Manchmal ist weniger mehr: In dieser rezenten Entscheidung differenziert der OGH die Überwachungspflichten der RAK danach, wie genau sie im Gesetz bzw. in einer Verordnung geregelt sind.
Da § 23 Abs 2 (hier insb Satz 2) RAO nach Ansicht des OGH bloß programmatischen Charakter hat und der RAK insbesondere keine bestimmten Kontrollmaßnahmen aufgetragen werden, handelt es sich um kein Schutzgesetz iSd § 1311 ABGB zugunsten des Mandanten („Allgemein gehaltene Bestimmungen, die keine konkreten Verpflichtungen normieren, sind keine Schutzgesetze“). Während diese Bestimmung hinsichtlich Geldwäscherei und Terrorismusfinanzierung zumindest zu Häufigkeit und Intensität von Aufsichtsmaßnahmen eine Aussage trifft, beschränkt sie sich, was die Überwachung sonstiger Pflichten der RAK-Mitglieder betrifft, auf die lapidare Aussage, dass solche Pflichten bestehen. Der OGH zitiert die Meinung der einschlägigen Literatur, dass es bei diesem Aufsichtsrecht bzw. der diesbezüglichen Pflicht in erster Linie um das objektive Interesse des Standes und weniger um ein subjektives Interesse einzelner Standesangehöriger oder der Klienten geht. Der Mindermeinung, dass aus den Interessen des Standes auch ein Interesse der Klienten an tadelloser anwaltlicher Pflichterfüllung folge, da konkrete Fehler im Einzelfall das Ansehen des Standes insgesamt gefährden würden, schließt sich der OGH nicht an – zu Recht, ist dies doch nichts anderes als eine Zirkeldefinition, die einer konkreten Begründung ermangelt. Eine solche Argumentation wäre wohl auch nicht zu Ende gedacht: Niemand kann vernünftigerweise annehmen, dass die RAK auch nur annähernd in der Lage wäre, die Einhaltung sämtlicher Pflichten, die Rechtsanwälte treffen, zu überprüfen, nicht einmal „nur“ im Bereich der Geldgebarung. So hat der OGH in 1 Ob 137/20h) bereits ausgesprochen, dass „kein (vernünftiges) System, bei dem die Sorgfaltspflichten und der betriebene wirtschaftliche Aufwand nicht überspannt werden, […] lückenlosen Rechtsschutz vor allen erdenklichen kriminellen und gesetzwidrigen Handlungen bieten [könne]“.
Anders verhält es sich, folgt man dem obiter dictum des OGH in dieser Entscheidung, zu § 23 Abs 6 iVm § 10a RAO und den jeweiligen Treuhandeinrichtungen einer RAK: Danach hat die RAK die Einhaltung der ihren Mitgliedern obliegenden Pflichten nach § 10a RAO sowie der aufgrund von § 27 Abs 1 lit g) RAO erlassenen Richtlinien (insb den Treuhandstatuten) zu überprüfen. Der klagenden Partei war damit allerdings nicht geholfen, besteht doch, wie der OGH zutreffend hervorhebt, gem § 10 Abs 2 letzter Satz RAO bei Beträgen, die der RA im Rahmen einer Prozessführung treuhändig entgegennimmt, gerade keine Pflicht zur Inanspruchnahme der Treuhandeinrichtung. Und gerade weil im Zusammenhang mit der Treuhandeinrichtung die Pflichten der RAK detailliert geregelt sind, schließt der OGH (e contrario), dass der Gesetzgeber dort, wo er solche Pflichten nicht in diesem Maße regelt, er solche auch nicht im Sinn eines Schutzgesetzes regeln wollte.
Da sich im Prozess keine Anhaltspunkte dafür ergeben hatten, dass die RAK erkennen hätte können, dass der ehemalige Rechtsvertreterin der Klägerin keine Fremdgeldkonten führte, weshalb, so der OGH, „auch kein besonderer Anlass der Beklagten zur Kontrolle gerade dieses bestimmten Rechtsanwalts“ bestanden hätte, gab es für den OGH auch keinen Grund zu erklären, bei Vorliegen welcher konkreter Verdachtsmomente ein solcher Anlass zur Kontrolle gegeben wäre. Was sollte die RAK auch mit dem bloßen Hinweis, RA XY führe keine Fremdgeldkonten, anfangen – außer dies festzustellen und den RA an seine Pflicht gem § 43 RL-BA zu erinnern? Selbst in einem solchen Fall wäre es wohl kaum realistisch, sämtliche abgeschlossenen Prozessakten des RA auf allfälligen Fremdgeldeingang beim RA und dessen Umgang damit zu untersuchen.
Im Zusammenhang mit der gerade stattfindenden Umstellung/Neuerstellung elektronischer Treuhandbücher in den diversen RAK Österreichs wirft gerade diese Entscheidung nicht unbedeutende Fragen auf:
- Reicht eine Kontrolle ex post oder bedarf es einer laufenden Kontrolle ab ovo?
- Reicht eine bloß stichprobenartige, wenn auch systematische Kontrolle?
- Was ist seitens der RAK zum Schutz der von der Treuhandschaft erfassten Personen (Vertragsteile, Drittfinanzierer, dinglich Berechtigte etc.) zu tun, wenn der zu überprüfende Rechtsanwalt an der Überprüfungsmaßnahme der RAK nicht mitwirkt? uvam
Glossatoren Eric Heinke sowie Thomas Höhne (am Verfahren beteiligt)
Die gesamte Publikation aus dem österreichischen Anwaltblatt 2023/164 kann hier nachgelesen werden.
Eric Heinke
Der Autor ist Rechtsanwalt in Wien und Präsident-Stellvertreter der Rechtsanwaltskammer Wien.
Thomas Höhne
Der Autor ist Rechtsanwalt in Wien.